Fahrrad des polnischen Überlebenden Stanisław Kudliński

Fahrrad des polnischen Überlebenden Stanisław Kudliński
Privatbesitz Aurelia Płotkowiak, Poznán, 
Foto: Markus Gradwohl

 

 

Am 5. und 6. Mai 1945 befreiten Einheiten der 3. US Army mehr als 40.000 Häftlinge der Konzentrationslager Mauthausen und Gusen. Der herbeigesehnte Moment der Befreiung war für die meisten Gefangenen aber noch nicht mit der Freiheit gleichzusetzen. Tausende waren derart geschwächt und krank, dass sie trotz medizinischer Versorgung durch die US Army noch in den Wochen und Monaten nach der Befreiung starben. Mehr als 3.000 Tote wurden nach der Befreiung auf den von der US Army angelegten Lagerfriedhöfen in Mauthausen und Gusen bestattet. Tausende waren von der KZ-Haft so entkräftet, dass sie in ihrer Agonie den lange ersehnten Moment gar nicht realisieren konnten. Eine tschechische Überlebende berichtete später, dass sie erwartet hatte, im Moment der Befreiung von besonderem Hochgefühl erfüllt zu werden. Hingegen: Nichts von alldem fühlte ich! Kein Glück, keine Aufregung, nur eine innere, trostlose Leere und eine fürchterliche Angst, die Angst vor dem Nachhausekommen und die Angst vor der Frage, wen ich antreffen würde und auf wen ich vergeblich warten müsste, beschäftigte mich in dieser Stunde. (Lisa Scheuer)

 

Neben der Sorge um das Schicksal von Angehörigen und Freund*innen beherrschte die Befreiten große Ungewissheit über die wirtschaftliche und vor allem die politische Situation in ihren Herkunftsländern. Von den im Mai 1945 mehr als 1,6 Millionen in Österreich befindlichen Displaced Persons, die als Zwangsarbeiter*innen, rassistisch Verfolgte oder KZ-Häftlinge durch das Nazi-Regime verschleppt worden waren, machten sich deshalb viele auf die Suche nach einer neuen Heimat.

Stanisław Kudliński (1915–2010) zählte zu den Häftlingen, die in der Lage waren, den Befreiern zuzujubeln. 1940 hatte er sich den polnischen Szare Szeregi (Graue Reihen), der im Widerstand aktiven paramilitärischen Pfadfinderbewegung, angeschlossen. 1942 deportierten ihn die Nationalsozialisten in das KZ Mauthausen. Im Außenlager Steyr und im KZ Gusen musste er für die Steyr-Daimler-Puch AG Zwangsarbeit leisten. Als Techniker war er aber in privilegierter Position und erhielt bessere Verpflegung als das Gros der KZ-Gefangenen. Deshalb war er im Mai 1945 auch imstande, das befreite Lager Gusen zu verlassen und gemeinsam mit vier polnischen Kameraden zu Fuß nach Linz zu marschieren. Angehörige des Ordens der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul in Linz gewährten den Fünf Obdach. Trotz Fürsorge starb einer aus dieser Gruppe neun Tage nach der Befreiung.

 

Bei Kudliński kamen – anders als bei einem weiteren der Fünf – wegen der engen Bindung an die Mutter sowie seinem ausgeprägten Patriotismus keine Zweifel über die Heimreise auf. Die Ordensschwestern stellten den drei KZ-Überlebenden ein Fahrrad zur Verfügung, ein US-Soldat polnischer Herkunft ein weiteres. Zu dritt machten sie sich nun mit zwei Fahrrädern auf den Weg zurück nach Polen. Zwei Wochen später erreichten sie endlich ihre Heimat.

Die Erfahrung der KZ-Haft prägte Kudliński bis an sein Lebensende. Regelmäßig besuchte er die Gedenkfeierlichkeiten an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. 2002 präsentierte er bei einem Oral History-Interview an seinem Wohnort in Poznań das Fahrrad, das er sorgsam aufbewahrt hatte. 2013 stellte seine Tochter Aurelia Płotkowiak das Fahrrad der KZ-Gedenkstätte Mauthausen als Leihgabe zur Verfügung. Seither ist es ein zentrales Objekt in der Dauerausstellung über die Geschichte des Konzentrationslagers.

 

Ralf Lechner
KZ-Gedenkstätte Mauthausen

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